Die Träume der kinderlosen Frauen

Deutschland scheitert bei der Familienplanung: Wenn Eltern bemerken, dass sie Nachwuchs wollen, ist es biologisch oft schon zu spät. Der Schock trifft meist Paare ab 30, der Staat hilft immer weniger

von Anne Petersen

Am Anfang hatte sie ihn nicht ernst genommen. "Was hältst du davon, wenn wir jetzt noch Kinder haben?" hatte ihr Mann Volker sie gefragt. In der Wartehalle am Flughafen Berlin-Tegel - kurz vor dem gemeinsamen Asien-Urlaub über Weihnachten und Silvester, eine halbe Stunde vor Abflug und zwei Wochen vor ihrem vierzigsten Geburtstag. Silke Kestner* war überrascht.

"Du hast wohl zu gute Laune, was?" fragte sie ihren Mann grinsend. - "Aber ihm war es total ernst", erinnert sich die heute 42-Jährige. Die gesamten zehn Stunden Flug hat er auf sie eingeredet. Bei der Ankunft in Sri Lanka hatte er sie bereits überzeugt. Die Sonne strahlte. Es war ein schöner Urlaub. Mit Rucksack tingelten die beiden von Hütte zu Hütte, schliefen auf Strohmatten und unter Moskitonetzen. Silke Kestner muss heute noch lachen: "Wo und wie wir uns überall bemüht haben, ein Kind zu machen." Auf dem Rückflug verzichteten beide auf ein Glas Champagner. Namen für das Kind hatten sie schon ausgewählt. Als der Schwangerschaftstest am nächsten Tag negativ ausfiel, beruhigten sich die beiden gegenseitig: "Es klappt beim nächsten Mal." Doch es sollte nicht mehr klappen: nicht im nächsten Monat, nicht im nächsten Jahr. Einfach gar nicht mehr. Heute hat sich die Biologin damit abgefunden, gemeinsam mit ihrem Mann zu den 1,5 Millionen Paaren in Deutschland zu gehören, die ungewollt kinderlos sind, aber: "Der Abschied war sehr tränenreich."

Als "verpassten Kinderwunsch" bezeichnet Familienministerin Renate Schmidt (SPD) dieses neue Phänomen - eine persönliche Tragödie, die immer mehr Frauen in Deutschland trifft. Jede vierte nach 1960 geborene Frau ist kinderlos geblieben. Von den nach 1970 Geborenen könnte es sogar jede Dritte werden.

Natürlich gibt es auch die bewusste Entscheidung gegen Kinder, manche Frauen haben einfach "kein Bedürfnis nach einem eigenen Baby", wie Susie Reinhardt in ihrem Buch "Frauenleben ohne Kinder" schreibt, an vielen anderen Frauen aber zieht die Möglichkeit, eine Familie zu gründen, einfach vorbei. Besonders die gut ausgebildeten Akademikerinnen wollen erst Karriere machen und verschieben so den Kinderwunsch oft, bis es zu spät ist. Verübeln kann ihnen das bei den langen Ausbildungszeiten in Deutschland niemand, schließlich macht man seinen Doktor nicht, um kurz darauf nur Mondraketen aus Lego zusammenzubauen.

Die andauernde Unvereinbarkeit von Familie und Beruf in Deutschland ist aber nicht der einzige Grund dafür, dass immer mehr Frauen in die "Fruchtbarkeitsfalle" (Birgitta vom Lehm in der "Welt") tappen. Längst sind es nicht mehr die angeblich so karriereorientierten, aufstrebenden Singlefrauen, die ohne Nachwuchs bleiben. Vielmehr ist Kinderlosigkeit ein Risiko, das mittlerweile fast jede junge Frau bedroht. In einer individualisierten Gesellschaft geht es eben in erster Linie darum, das eigene Leben zu optimieren. Zwar gehören Kinder zum perfekten Lebensentwurf der Mehrheit dazu - rund 90 Prozent der jungen Erwachsenen in Deutschland, mehr als je zuvor, streben derzeit eine Partnerschaft und Nachwuchs an - aber genauso wichtig sind eben auch der Job, der Lebensstandard und die Freizeitgestaltung. Zwischen Schreibtisch, Lieblingsitaliener und Fitnessstudio kann der Alltag schon mal ein rasantes Tempo annehmen, da ziehen vielleicht die entscheidenden paar Jahre ganz unbemerkt dahin, und während man irgendwie ja immer noch auf den idealen Zeitpunkt für ein Kind wartet, ist er biologisch gesehen schon längst vorbei. "Ich hatte einfach noch so viel vor", erinnert sich Silke Kestner an die Jahre vor ihrem 40. Geburtstag. Ihr Job als Pharmareferentin hat ihr immer viel Spaß gemacht. Ihre Freizeit verbrachte sie mit ihrem Mann und Freunden, jedes Jahr machte das Paar eine Fernreise. Irgendwann später kam das Gefühl: "Okay, jetzt hast du alles gemacht und erlebt", so Kestner. Zeit für ein Kind, das nicht mehr kommen sollte.

"Alter ist der wesentliche Faktor, wenn eine Frau in die Praxis kommt", bestätigt auch Klaus Diedrich, Direktor der Universitätsfrauenklinik in Lübeck (siehe auch Interview rechts auf dieser Seite). "Der Kinderwunsch wird in immer spätere Lebensphasen verschoben", so der Gynäkologe, und dabei werde nicht beachtet, dass sich die Eierstockfunktionen mit zunehmendem Alter verändern. Ein Eisprung findet immer seltener statt, außerdem erhöht sich mit jedem Lebensjahr die Wahrscheinlichkeit, schon einmal eine unbemerkte Infektion gehabt zu haben. Doch die Technikgläubigkeit der meisten Paare scheint erstaunlich, stellvertretend für seine Zunft berichtet Diedrich: "Die meinen alle, der Doktor wird es schon richten." Aber auch wenn prominente Paradebeispiele, wie etwa Madonna oder "Sex and the City"-Star Sarah-Jessica Parker, scheinbar mühelos im fortgeschrittenen Alter schwanger werden - für die Otto-Normalmutter bedeutet das Wort Familienplanung nicht immer, dass man Familie planen kann. Mit viel Kraft, Ehrgeiz und manchmal auch mit Gewalt haben die meisten Menschen in ihrem Leben bis zu diesem Zeitpunkt schon vieles erreicht. Wenn es mit Kindern dann nicht funktioniert, ist das für viele ein Schock. So wie für Stella Kronshagen. Sie lebte acht Jahre auf Korsika - für sie "eher ein Abenteuer", bevor sie nach ihrer Rückkehr nach Deutschland ihren fünf Jahre jüngeren Mann Jasper kennen lernte. "Für uns war schnell klar, dass wir heiraten und eine Familie gründen wollten", erzählt die 39-jährige Sekretärin. "Dass es nicht klappen könnte, stand gar nicht zur Debatte." Das Paar mietete in der Nähe von Frankfurt am Main ein Haus mit Garten, kaufte einen Kombi und die ersten Namensbücher. Was dann folgte, ist die typische Geschichte vieler ungewollt Kinderloser. Erst nach etlichen vergeblichen Versuchen ließen sich die beiden untersuchen, irrten dann noch einige Zeit von Arzt zu Arzt. Jahre vergingen, bevor sie endlich in eine Kinderwunschklinik überwiesen wurden und sich für eine künstliche Befruchtung entscheiden.

Dass es damit gelingt, ist keineswegs sicher - und seit In-Kraft-Treten der Gesundheitsreform Anfang dieses Jahres auch teuer. Neuerdings müssen Paare 50 Prozent der Kosten, die sich auf etwa 4000 Euro für Medikamente und die Befruchtung belaufen, selbst tragen. Darüber hinaus sind ihnen statt bisher vier nur noch drei Versuche gestattet, und das auch nur noch für Frauen zwischen 25 und 40 Jahren. Klaus Diedrich sieht darin das Entstehen einer Zwei-Klassen-Medizin: "Wer es bezahlen kann, der macht es, wer es nicht bezahlen kann, hat keine Chance." Außerdem ist sogar fraglich, ob diese Einsparungen volkswirtschaftlich sinnvoll sind. "Immerhin werden schon heute etwa 40 000 Kinder jährlich durch die verschiedenen Methoden der künstlichen Befruchtung erzeugt", sagt Andreas Wittemann, Betreiber des Kinderwunschforums www.klein-put.de: "Potenzielle Renten- und Steuerzahler", gibt er zu bedenken, "Und dazu absolute Wunschkinder."

Stella Kronshagen hat darum besonders "Angst, dass es gar nicht mehr klappt". Bei Jasper hat man eine Krampfader am Hoden entdeckt, Stellas Hormonwerte stimmen nicht. Sie betont, wie froh sie ist, dass die Kinderlosigkeit offensichtlich an beiden liegt: "Wir sind dadurch näher zusammengewachsen, jetzt denken wir langsam über Adoption nach." Ein Kind adoptieren würde auch Julia Meier gern. Als allein Stehende sind ihre Chancen in Deutschland gleich null. Die Strategie-Managerin hatte eigentlich immer gedacht, sie würde einmal drei Kinder haben. Nach zwei Fehlgeburten und dem Scheitern der dazugehörigen Beziehungen plant die 39-Jährige jetzt das Projekt "Mini-Familie" mithilfe einer Samenspende aus dem Ausland. "Ich habe ja alles", sagt sie, "eine große Wohnung, ein Auto und sogar flexible Arbeitszeiten." Was fehlt, ist der passende Vater - das "Husband-Material", nach dem - wie die Journalistin Heike Faller schreibt - so viele Frauen um die 30 suchen. Der fehlende Partner ist nach einer neuen Befragung des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung von 4000 Kinderlosen im Alter von 20 bis 45 Jahren mit 73 Prozent der wichtigste Grund für keinen Nachwuchs, weit vor der Beibehaltung des Lebensstandards (58 Prozent) und Zukunftssorgen (55 Prozent).

Paarbeziehungen sind in den letzten Jahren weniger verbindlich geworden. Nicht jeder Lebenspartner möchte Vater werden. Außerdem: "Welchen Grund sollte ein Mann haben, sich jetzt die Nächte mit Babygeschrei ruinieren zu lassen, wenn er das in zehn Jahren ebenso gut noch tun kann?" fragte unlängst die "taz". Genau diese Antwort hörte auch Julia Meier jahrelang, bis ihre Beziehung nach zwölf Jahren in die Brüche ging. Damals war sie 37 Jahre alt. Ihre jetzige Situation teilt sie mit vielen anderen Frauen im gleichen Alter, die vieles erreicht haben und sich dann irgendwann wie Meier sorgfältig geschminkt in ihrer großen Wohnung auf ihr Sofa setzen, umgeben von Kissen, die die Putzfrau aufgeklopft hat, und über Einsamkeit sprechen. Meier sagt dann Sätze wie: "So ein Kind verlässt dich nicht." Niemand setzt Kinder in die Welt aus reinem Altruismus oder um im Alleingang die demografische Entwicklung umzukehren. Eine Portion Egoismus steht hinter jeder Familiengründung. Aber Kinder sind kein Sinnersatz für eine Lebensphase, in der man sonst alles erreicht hat. "Nur weil wir plötzlich mehr Zeit hatten und alle anderen Lebensprojekte abgeschlossen waren, meinten wir, jetzt passe ein Kind in unser Leben", so Silke Kestner. Mittlerweile hat sie sich mit ihrer Kinderlosigkeit abgefunden: "Es sollte eben nicht mehr sein." Medizinische Hilfe hat das Paar nicht in Anspruch genommen. "Das hätten wir irgendwie vermessen gefunden, jahrelang war es schließlich nicht unser Ziel gewesen, Kinder zu bekommen. Der Abschied hat einige Monate in Anspruch genommen. "Jetzt können wir uns ein Leben ohne Kinder wieder vorstellen", sagt Silke Kestner heute. "Aber eines ist sicher: Wenn wir alt sind, bekommen wir keinen Besuch von unseren Enkelkindern."

* Die Namen der Betroffenen wurden von der Redaktion geändert

Artikel erschienen am 11. Jan 2004